„Retro“ ist Schwachsinn!

von Mr Creosote (26.02.2013)

Tja, das hättet ihr jetzt wohl nicht auf einer Webseite, die sich „The Good Old Days“ nennt, erwartet, was? Nein, ich bin weder verrückt geworden, noch mache ich schlechte Witze: Es ist tatsächlich meine erklärte Ansicht, dass die aktuelle „Retro“-Welle ein wirklich dümmlicher Trend ist und das es mir äußerst missfällt, dass diese Seite gerne als Teil dieser Nische gesehen wird – denn TGOD war so niemals gemeint. Überrascht, schockiert, verwirrt? Dann lest weiter!

Was bedeutet es eigentlich, „retro“ zu sein?

Was versteckt sich hinter dem Begriff? Im lateinischen bedeutet die Vorsilbe nichts anderes als „rückwärts“, in unserem Kontext könnte man also von „rückwärtsgewandt“ sprechen. Doch in diesem Begriff liegt eine Doppeldeutigkeit, die meinen Konflikt mit der übermäßigen Nutzung des Begriffes in unserer Zeit bestens auf den Punkt bringen. Einerseits könnte man darunter verstehen, dass man zurückblickt; daran ist erstmal nichts Schlimmes. Ganz im Gegenteil: Sich seiner Vergangenheit bewusst zu sein ist ein wichtiger Teil der kulturellen und persönlichen Identität. Zweifellos spielt dieser Aspekt eine tragende Rolle in der Motivation, auch diese Webseite zu betreiben.

Zurück in die Vergangenheit?

Andererseits könnte man den Begriff jedoch auch als Versuch interpretieren, tatsächlich in der Zeit zurückzugehen. Womit wir bei reiner Nostalgie angekommen wären. In gewissem Maße ist auch das durchaus menschlich: Bestimmte Dinge, wie eben zum Beispiel Computerspiele, die man in seiner Jugend gespielt hat, können eine subjektive, undefinierbare und sentimentale Verbindung zu unschuldigeren, sorgloseren Zeiten herstellen, derer man sich gerne erinnert. Soweit, so gut – solange man sich bewusst bleibt, dass dies nur Konnotationen, Emotionen und Erinnerungen sind.

Zwei Dinge können dabei grundlegend schiefgehen. Die eine Gruppe besteht aus den „Retro“-Fetischisten, die sich einbilden, sie könnten tatsächlich alte Zeiten wieder aufleben lassen. Was natürlich unmöglich ist, also dreht sich das gesamte Leben nur noch um den sinnlosen Versuch. Leben in der Gegenwart? Findet nur soweit statt, wie es sich beim besten Willen überhaupt nicht verhindern lässt (oder anders gesagt: soweit es den Zeitreisen dient).

Das hat gleich einen ganzen Sack voller Implikationen. Die offensichtlichste ist, dass sich diese Menschen schnell in einer endlosen Schleife immer größerer Frustration angesichts der Aussichtslosigkeit befinden. Erstens, weil es niemals mehr genauso sein wird, wie früher: Da, wie bereits erwähnt, die Konnotationen niemals reproduziert werden können, bleibt das wiederholte Erleben ein hohler Abklatsch. Zweitens schmälert jeder Versuch sogar eventuell die ursprüngliche Erinnerung: Da neue Konnotationen, die nicht so einseitig positiv belegt sind, neben den originalen entstehen, schwächen sie den Wert derjenigen, die man zu reproduzieren versuchte.

Blind fürs Neue?

Drittens, und das mag offensichtlich sein, sollte aber trotzdem nicht unerwähnt bleiben, war alles, was heutzutage „alt“ und damit „retro“ ist, auch irgendwann mal neu. Bei der Interpretation dieses Faktums kann man wieder zwischen zwei Menschentypen unterscheiden. Beide bewerten den subjektiven Wert eines kulturellen Guts anhand ihrer eigenen Lebensdauer, die entscheidende Grenze ist jedoch unterschiedlich gezogen.

Die zuvor diskutierte Gruppe zieht die Grenze üblicherweise am Ende der eigenen Jugend. Was man in jüngeren Jahren erlebt hat, wird positiv bewertet, alles was danach kam ist nicht mehr interessant oder sogar eine Zumutung. Das mag immer noch menschlich sein, aber seltsam ist es schon, da es so vollkommen subjektiv und zufällig ist. Schon ein geringer Altersunterschied von nur fünf Jahren in jegliche Richtung kann in diesem Sinne eine völlig andere Wahrnehmung und Wertschätzung bedeuten.

Was man (also wir) sich (uns) also immer wieder bewusst machen muss (müssen) ist, dass das Alter von Dingen niemals ein absoluter Zustand ist. Als wir jung waren, haben wir diese (damals neuen) Dinge aufgeschlossen betrachtet, doch diese Offenheit geht anscheinend (in unterschiedlichem Maße je nach Persönlichkeit) langsam verloren. Jeder möge selbst in sich gehen und ehrlich überlegen, wann er das letzte Mal ein Spiel völlig aufgeschlossen, d.h. ohne das Vorurteil „alles schonmal gesehen zu haben“, ausprobiert hat. Oder, wenn man denn wirklich glaubt, es gebe objektive Gründe dafür, älteren Spielen den Vorzug gegenüber neuen zu geben, wie wäre es dann hiermit: Wann hat man das letzte Mal ein Spiel des selbstgewählt bevorzugten Alters ausprobiert, dass für einen selbst neu war? Das muss ja alles nicht bedeuten, dass man sein Bewusstsein, sein Wissen, seine über die Jahre gesammelten Erfahrungen völlig ausblenden muss. Doch wo ist die Grenze zwischen Letzterem (der positiven Eigenschaft, sich seiner früheren Erfahrungen bewusst zu sein) und Ersterem (der negativen Eigenschaft, engstirnig zu sein)? Das ist leider einges der Grundprobleme des Lebens, die jeder mit sich selbst ausmachen muss.

Doch man kann die Relevanzgrenze sogar noch weiter nach vorn legen, wie eine andere Personengruppe zeigt, nämlich vor das eigene bewusste Leben. Dies lässt sich am besten am Beispiel eines kulturellen Mediums zeigen, das bereits eine längere Geschichte hat, als das der Computerspiele. Bei Spielfilmen ist der „Retro“-Trend ebenfalls im vollen Gange mit all den „Reboots“ und „Neuinterpretationen“ alter Stoffe. Eine Generation von Menschen, die sich nicht mehr bewusst an die Veröffentlichung der ersten drei Stirb-Langsam-Filme erinnern kann, hat mittlerweile bereits das Erwachsenenalter erreicht. Viele von ihnen bezeugen ihre absolute Bewunderung dieser ersten drei Filme, die selbstverständlich viel, viel besser seien, als die beiden neueren (deren Entstehung sie miterlebt haben), die – ebenso selbstverständlich – schreckliche Machwerke seien. Gibt es dafür eigentlich einen anderen Grund außer dem Alter der Filme?

Ohne jetzt zu weit in den Bereich der Filmkritik abschweifen zu wollen, stellen wir einfach mal die deutliche Korrelation zwischen dem Alter der Person und ihrer Meinung darüber, was gut und wertvoll ist, fest. Alles, was „immer schon dagewesen“ ist (d.h. vor Beginn des bewussten Lebens entstanden ist), ist anscheinend hoch geschätzt, aber was später kam (an dessen Veröffentlichung man sich also erinnert) ist es nicht.

Wenn man es so formuliert, könnte man dies sogar für noch zweifelhafter halten, als den Versuch, die eigene Jugend neu zu erleben, denn Menschen diesen Schlages leben noch nicht mal in ihren eigenen Erinnerungen, sondern einer entliehenen (und damit eingebildeten) Vergangenheit. Sie suchen nach Emotionen und Konnotationen, von denen ihnen vielleicht, wenn es hoch kommt, von Dritten mit nostalgischen Gefühlen berichtet wurde, aber die sie selbst noch niemals erlebt haben. Was für eine traurige Existenz!

Alles nur Gerede?

Doch all die beschriebenen Fälle ungesund übertriebener Nostalgie sind lange noch nicht alles. Der „Retro“-Begriff hat eine weitere negative Facette, die allerdings in die andere Richtung geht. Es ist die nervige Ignoranz nicht gegenüber neuen Dingen, sondern gegenüber den Objekten der eigenen Nostalgie. Verkörpert wird dieses Phänomen durch den „Retro-Freak“, der viel redet, aber darüber hinaus niemals handelt. Diesen Typ Mensch trifft man massenhaft in den wohlbekannten Internetforen. „Ah, ja, Spiel X war soooo geil!“

Doch würde diese Person X noch jemals wieder anfassen? Darauf käme sie nicht mal an schlechten Tagen! Stattdessen beschäftigt sie sich ausschließlich mit neuen Dingen, die dann ebenso abgeheftet und vergessen werden, sobald sie alt werden (wie auch immer definiert). Moment, vergessen? Wie passt das damit zusammen, dass man immer noch darüber redet?

Das Wort ist schon bewusst gewählt, denn an was erinnert sich diese Person wirklich? Nicht viel abgesehen von der unreflektierten Erinnerung, dass etwas Spaß gemacht hat. Was daran Spaß gemacht hat? Wie es vielleicht das Leben zu der Zeit beeinflusst hat? Vergessen. Die Möglichkeit, sich dieser Dinge wieder zu erinnern? Undenkbar. Deshalb: reine, unreflektierte Nostalgie.

Nostalgie gegenüber kultureller Identität

Greifen wir – nun im positiven – zwei Begriffe aus den vorigen Abschnitten auf, unreflektierte Nostalgie und kulturelle Identität: Erstere ist einfach zu erlangen; wenn man sich nicht gerade zu sehr mit bewusstseinstötenden Substanzen volldröhnt, hat man im Allgemeinen zumindest eine grundlegende Erinnerung seines bisherigen Lebens. Doch wenn es sich darauf beschränkt, was nützten sie uns dann, abgesehen von kurzen Momenten kleiner Erinnerungen?

Wir sind ein Produkt unserer persönlichen Erfahrungen und unserer Umwelt. Kulturelle Werke, ob nun Bücher, Filme oder eben Spiele, beeinflussen unser Leben und unsere Ansichten. Sie werden zum Teil unserer Identität. Es ist ja wohl kein Zufall, dass jetzt, da die erste umfangreiche Generation, die mit Computerspielen aufgewachsen ist, sich in einer Lebensphase befindet, in der ihre Finanzkraft sie zur wertvollen Zielgruppe macht, plötzlich an jeder Straßenecke und sogar im vermarktungstechnischen Zusammenhang mit eigentlich völlig anders gelagerten Produkten Pixelästhetik genutzt wird. Die Zielgruppe eines mit einem beliebten Spielcharakter vergangener Zeiten bedruckten T-Shirts sind Nostalgiker. Doch was kommuniziert das Tragen eines solchen T-Shirts eigentlich? Abgesehen von der trivialen Erkenntnis, dass die Person, die es trägt, wohl den Charakter kennt, praktisch nichts.

Die Vergangenheit wird so zu einer reinen Kitschversion ihrer selbst reduziert. Besonders schlimm wird das dadurch, dass genau diejenigen Menschen, die es wirklich besser wissen sollten, die Übeltäter oder zumindest Komplizen darin sind. Was erstmal harmlos oder witzig wirken mag, wird schnell sehr blödsinnig. Und genau das ist meine Assoziation mit dem „Retro“-Trend!

Wir müssen endlich an einer reflektierten Sicht auf unsere Vergangenheit arbeiten. Natürlich darf sie auch nostalgisch sein. Niemand erwartet, dass von heute auf morgen die ganze Menschheit zu messerscharf analysierenden Wissenschaftlern bezüglich dem eigenen Leben wird. Doch eine grundlegende Reflektion darüber, was nur einfach nur Nostalgie, d.h. eine Konnotation mit einfacheren, vielleicht glücklicheren Zeiten, ist, und was andererseits doch zeitlose Qualitäten sein könnten, d.h. nicht nur Kuriositäten, über die man heute lacht, wäre schon angebracht. Denkt doch einfach mal darüber nach, was euch bis zum heutigen Tag alles in eurer Entwicklung beeinflusst hat. Was wirkt für euch optisch oder akustisch ästhetisch? Lässt sich da vielleicht etwas auf vergangene Computerspielfreuden zurückführen? Wagt einfach mal das Experiment – vielleicht seid ihr sogar selbst von den Erkenntnissen überrascht, so dass ihr etwas über euch selbst lernen könnt.

Wessen Definition von „Retro“ mit einer solchen Sicht vereinbar ist, dem sei gesagt: Na los, seid retro! Lacht ruhig über die Dinge aus der Vergangenheit, die man heute wirklich nicht mehr ernst nehmen kann, und lacht auch über euer eigenes früheres Selbst – aber auch mit eurem früheren Selbst. All das ist nun mal Teil von euch und das muss auch niemandem peinlich sein. Bewahrt euch eure Erinnerungen, aber seid euch bewusst, dass ihr sie nicht mehr wiedererleben könnt, denn – wenn schon nichts anderes – so habt ihr euch seitdem verändert. Und bitte belasst es nicht dabei, sondern genießt weiterhin die Dinge der Vergangenheit, die wirklich gut sind! Ja, vielleicht sogar besser als das Meiste, was heutzutage neu ist – auch ohne Nostalgiebrille.

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