Agatha Christie: Murder on the Orient Express
für PC (Windows)

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Mr Creosote:
Weitere Titel: Agatha Christie: Mord im Orient Express
Firma: AWE Productions / The Adventure Company
Jahr: 2006
Genre: Adventure
Thema: Umsetzung eines anderen Mediums / Krimi
Sprache: English, Deutsch
Lizenz: Kommerziell
Aufrufe: 12471
Rezension von Mr Creosote (14.10.2017)
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Der arme Hercule Poirot. Nicht nur, dass er immer wieder irrtümlich für einen Franzosen gehalten wird, sondern im kollektiven Bewusstsein der Popkultur wird er immer die zweige Geige hinter Sherlock Holmes spielen. Was in gewisser Weise verdient sein mag, da er als Holmes-Imitation (oder Hommage?) erdacht wurde. Andererseits könnte man meinen, dass er sich durch die Menge bekannter Geschichten irgendwann mal emanzipiert haben sollte. Apropos bekannte Geschichten, Mord im Orientexpress ist seine wahrscheinlich bekannteste Untersuchung. Der beschränkte Handlungsort des gestrandeten Zugs, in dem ein Mord geschieht, sowie der folgende Interviewmarathon können als wegweisend für das klassische Krimigenre gesehen werden. Gleichzeitig lässt sich diese Struktur nur schwerlich in ein unterhaltsames Computerspiel übertragen.

Im vorliegenden Versuch tritt Poirot sogar ermittlungstechnisch in die zweite Reihe (oder doch nicht?). Wie bereits durch zahlreiche Holmes'sche Computerspiele etabliert (Infocoms Sherlock: The Riddle of the Crown Jewels, Sherlock Holmes: Another Bow…) leitet der große Detektiv nicht persönlich die Untersuchung. Stattdessen muss der Spieler in Person eines Charakters, der für das Spiel neu erfunden wurde, ran. Antoinette Marceau, Angestellte der Bahnlinie, agiert als Augen, Ohren, Beine und Hände des unsterblichen Genies, als der amerikanische Millionär (im Nebenberuf Schleimbeutel) Ratchett ermordet wird. Vorwand dafür: Poirot habe seinen Knöchel verstaucht und muss deshalb das Bett hüten.

Was natürlich nur eingeschränkt Sinn ergibt. Man erinnere sich, dass geschätzt schlappe 95% von Poirots Ermittlung in der Buchvorlage aus der Befragung der Verdächtigen besteht, was er ja wohl genausogut im Liegen hätte vollziehen können. Der extrinsische Grund für eine solche Designentscheidung bleibt jedoch bestehen: Direkt als ein genialer Detektiv zu spielen, wird leicht zur Belastung für den Spieler; entweder, er wird dem Protagonisten nicht gerecht, da er nicht schnell genug schaltet, oder aber der Protagonist zieht – vorgegeben durch den Spieltakt – mehr oder weniger selbstständig seine Schlüsse und hängt damit den Spieler ab. Die Auslagerung der Indiziensuche in einen anderen Charakter führt andererseits zu einer anderen erzählerischen Sollbruchstelle, über die es später noch zu sprechen gilt.

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Hoch anrechnen muss man dem Spiel, dass es seinem Spieler etwas über das endlose Befragen der Verdächtigen hinaus zu tun gibt. Leider bewegt sich jedoch nicht alles davon im Rahmen typischer kriminalistischer Aktivitäten. Das Spiel beginnt diesbezüglich sogar gleich sehr schwach: Um initialen Kontakt mit Poirot auf dem Istanbuler Markt herzustellen, muss Antoinette ihn von Bildschirm und Bildschirm jagen, wobei sie an jeder Ecke von jeweils zwei Personen geblockt wird, die Wegzoll in Form eines bestimmten Objekts verlangen. Ein Duo nach dem anderen, die gleiche langweilige Aufgabe immer wieder. Später liegt es an Antoinette, das defekte Heizungsrohr des Zugs zu reparieren, während der zweifellos dafür besser qualifizierte Bordmechaniker geruhsam in der Lok sein Pausenbrot verspeist. So etwas hinterlässt schon den fahlen Beigeschmack des sinnlosen in-die-Länge-ziehens.

Wo es sich dann doch um Detektivarbeit handelt, teilt sich diese grob in drei Kategorien. Die kleinste dreht sich um das Mithören von Hinweisen in den Unterhaltungen anderer. Da das Spiel nicht in Echtzeit abläuft – zum Guten oder zum Schlechten – ist dies eine recht simple Aufgabe, da man niemals Gefahr läuft, irgendetwas zu verpassen. Zweitens gilt es, alle Abteile zu durchsuchen. Mehrfach. Wenn es irgendwann nicht weitergeht, dann durchsucht man nochmal alle Abteile. Nicht unbedingt spannend, wenn man bereits alle Koffer durchwühlt hat, dann auch noch sämtliche Schuhe genauer zu betrachten und dann nochmal nach Fingerabdrücken zu suchen (seltsamerweise nachdem man die gleichen Objekte bereits mehrfach selbst betatscht hat). Drittens bleibt natürlich die Befragung der Verdächtigen. Wozu dem Spiel nichts anderes einfällt, als Pseudo-Multiple-Choice-Listen durchzugehen, bis keine Optionen mehr übrig bleiben. Was also genausogut nicht interaktiv hätte sein können.

Es hilft nicht unbedingt hilft ist, dass das Spiel die Reihenfolge dieser Aktivitäten mehr oder weniger vorschreibt. Man kann nicht etwas erstmal ein paar Passagiere befragen und dabei gleich deren Fingerabdrücke nehmen. Nein: Erstmal belauscht man alle möglichen Leute, dann durchsucht man das Gepäck, dann nimmt man alle Schuhe in Augenschein usw. Man befindet sich immer in einer dieser „Phasen“ der immer gleichen Aktivitäten, bevor man mal wieder etwas anderes versuchen darf.

Das für das Genre so wichtige Mittel der Deduktion wird spielerisch leider nicht umgesetzt. Die Protagonistin, Poirot (mit dem die Protagonistin sich immer wieder kurzschließt) und auch andere Charaktere machen dadurch einige unerklärbare Logiksprünge. Neue Fakten werden zur Unzeit enthüllt und unpassende Geständnisse häufen sich. Aussagen werden in offensichtlich falscher Reihenfolge gemacht. Die Protagonistin, eigentlich die Repräsentantin des Spielers, verfügt urplötzlich über Wissen, das ein Spieler ohne voriges Wissen der Lösung (falls ein solcher existiert) nach Stand der Geschichte überhaupt nicht haben könnte. Alles typische Probleme des Krimigenres beim bauäugigen Versuch, es in ein interaktives Format zu übersetzen.

Rein formell existieren zwei Schwierigkeitsgrade. Im einfacheren unterstützt Poirot stärker mit Tipps, was man als nächstes versuchen könnte. Tatsächlich wird das Spiel dadurch jedoch nicht schwieriger oder einfacher, sondern nur länger oder kürzer. Die Herausforderung besteht ohnehin nur darin, in jede Ecke und jeden Winkel zu gucken, alles dreifach anzuklicken und mit jedem solange zu Plauschen, bis keine Fortsetzung mehr möglich ist. Damit löst sich das Spiel von selbst. Entsprechend beschränken sich Poirots Tipps auf solche Plattheiten wie „Sie haben noch nicht alle Hinweise in den Abteilen gefunden“ (woher weiß er das denn bitte?), manchmal in gezielteren Varianten („Befragen Sie diese bestimmte Person“).

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Moment, löst sich das Spiel wirklich von selbst? Na ja, nicht ganz. Eine Handvoll echter Rätsel stecken schon drin. Das erste solche ist direkt dem Buch entnommen: Die Schrift auf den verbrannten Briefen wieder sichtbar zu machen. Poirot hilft nur allzu gern mit einer detaillierten Beschreibung des Vorgangs, falls man sich nicht mehr erinnert. Es ist ein gutes Rätsel, jedoch leider allzu bekannt, um wirklich zu begeistern. Ansonsten lässt sich die Originalität bestens mit dem Einbau einer echten „Rätselkiste“, die man durch herumschieben der Teile öffnen muss, beschreiben. Bäh!

Es sollte mittlerweile klargeworden sein, dass Orientexpress originelle spielerische Ideen fehlen, die das Interesse hochhalten könnten. Die Protagonistin ist in der Geschichte, aber jene schreitet tatsächlich ohne ihr Zutun (und damit dem des Spielers) voran. Und das in einer Geschichte, mit der der Spieler ohnehin bereits vertraut sein wird, also auch keine riesige Spannung verspricht. Weshalb diese Geschichte leicht variiert wurde. Oder sagen wir mal: Es wurde etwas hinzugefügt. Je weniger Worte man über diesen kitschigen Deus-Ex-Machina-Moment verliert, desto besser.

Die Erzähltechnik an sich ist ebenfalls nicht besonders stark. Die Probleme der Übersetzung ins interaktive Format („Enthüllungen in falscher Reihenfolge“, „Schlussfolgerungen, bevor alle Indizien vorlagen“) wurden bereits abgedeckt. Dazu gesellt sich nach der Anfangsszene in Istanbul eine endlose Expositionszwischensequenz, die man nur als vollständige Ausbremsung des Spielers verstehen kann. Dieser Effekt wiederholt sich im Spielverlauf mehrfach, auch wenn es sich dann um vordergründig gesehen interaktive Szenen handelt, in denen dem Spieler jedoch jeweils immer nur ein einziger „Weiter“-Knopf – beispielsweise getarnt als der einzige Hotspot im Bild – geboten wird.

Um jedoch endlich auf das Verhältnis zwischen Poirot und dem Spieler (oder aber dem Avatar des Spielers) zurückzukommen. Das Spiel endet diesbezüglich äußerst antiklimaktisch: Nachdem Antoinette sich die Hacken wundgelaufen hat, ist es Poirot selbst, der im letzten Moment wieder die Führung an sich reißt und all den Ruhm einstreicht, indem er die Lösung des Falls präsentiert (oder die Lösungen, wie in der Buchvorlage, plus noch diese… nein, lassen wir das). Antoinette, und damit der Spieler, sind dazu verdammt, nur noch auf Aufforderung ein paar Indizien auf den Tisch legen zu dürfen. Es versteht sich von selbst, dass auch dies wieder nur pseudointeraktiv geschieht, da der Spieler jeweils so lange herumprobieren kann, bis er zufällig die richtige Option trifft, ohne negative Konsequenzen zu befürchten.

Trotz Allem rettet sich das Spiel über die Akzeptanzgrenze, und zwar durch etwas, das bislang nur ganz kurz erwähnt wurde. Welcher Leser wäre nicht gerne Teil dieses Klassikers? Selbst wenn es nicht wirklich als Akteur, sondern nur als Zuschauer wäre. Klar, grafisch hat das Spiel auch seine Probleme. Die gerenderte Grafik sieht recht kalt und leblos aus; die Personen bewegen so steif, als wäre dieses Spiel noch aus den 1990er Jahren (den frühen Tagen dieser Technologie); aus der Vogelperspektive wirkt es sogar so, als schwebe Poirots abgetrennter Torso über seinem Bett. Trotzdem sind die Kulissen wirklich gut gestaltet. Es gelingt dem Spiel, die luxuriöse Enge des Zugs selbst, der in einer endlosen Schneewüste festsitzt (in die Antoinette auch ein oder zweimal stampfen muss), effektiv zu etablieren. Man könnte glatt sagen, der Zug ist der Star des Spiels.

Für die Charakterdesigns hat man sich augenscheinlich bei der 70er-Jahre-Verfilmung inspirieren lassen. Soll heißen, man trifft mehr oder weniger einen mittelalten Sean Connery in der Rolle des strengen und einigermaßen mürrischen Militäroffizier, einen dem jungen Michael York nachempfundenen osteuropäischen Diplomaten und so weiter. Die Stimmen sind ebenfalls weitgehend denen der jeweiligen Schauspieler nachempfunden. Abgesehen von Poirot selbst, der von David Suchet, der den Detektiv öfter als jeder andere im Fernsehen verkörpert hat, gesprochen wird. Hängt man sich nicht daran auf, dass zwei französische Muttersprachler (Poirot und Antoinette) sich selbst wenn niemand anderes zugegen ist auch Englisch unterhalten, dann ist die Vertonung ein großes Plus für die Atmosphäre des Spiels.

Aus Spielersicht kann die insgesamt eher faule Übersetzung der Geschichte in das andere Medium, ohne auf dessen Spezifika Rücksicht zu nehmen, für ein bisschen Frust sorgen. Andererseits umschifft das Design allzu große Klippen, so dass zumindest geduldige Spieler keine Probleme haben werden, das Spiel zu beenden. Auch wenn die Gesamterfahrung nicht ganz zufriedenstellen mag, so ist die Reise, auf die Mord im Orientexpress einen mitnimmt, doch nicht vollkommen unangenehm, da die Produktionswerte insgesamt recht ansprechend sind. Als selbsternannter Historiker muss man natürlich erwähnen, dass The Last Express in allen Belangen bereits zehn Jahre zuvor deutlich weiter war: Jenes Spiel sieht besser aus, klingt besser und ganz sicher spielt es sich besser als Mord im Orientexpress. Es ist also besser als die Umsetzung genau der Geschichte, die es inspiriert hat. Daraus muss sich doch eine Lektion für uns Spieler wie auch die Macher ableiten lassen…

Kommentare (7) [Kommentar schreiben]

LostInSpace:
Sollte sich jemand trotzdem für den Film interessieren: Kommt heute um 20:15 auf ZDFneo.
Mr Creosote:
Ich habe mittlerweile die 2017-Verfilmung ebenfalls gesehen. Blödsinninger Pathos (in einer ohnehin schon sehr moraltriefenden Geschichte), typisch moderne extrinsische Charakterisierungstechniken (Poirot mit seinen Ticks), viel zu viel „political correctness“… kann man sich meines Erachtens sparen. Da fand ich das Spiel noch unterhaltsamer!
Mr Creosote:
Na ja, gut, wenn du willst: der Schaffner ist der entkommene Entführer-Handlanger, der ein schlechtes Gewissen bekam und eigentlich ein knorke Typ ist. Das Armstrong-Baby ist gar nicht tot. Er hat das Mädchen großgezogen und es war das ganze Spiel über in einer Kiste im Gepäckwagen. Große, tränenreiche Zusammenführung mit der Familie (die sie gar nicht kennt).
Herr M.:

Kenn auch nur die 74er Variante, die ich für einen super Winterfilm halte. Sollte ich mir so gesehen mal wieder rein ziehen. Oder doch die Neuverfilmung?

Aber die eigentliche Frage ist ja: Was ist denn nun der so oft angedeutete, dann aber doch verschwiegene Deus Ex Machina? Hat der gute Herr all die Dolchstoße doch überlebt? War Poirot auch dabei und hat sich dort den Knöchel verstaucht? Ist ein Yet aus dem Schnee aufgetaucht und hat mitgemordet? War es letzten Endes Selbstmord und der Mord war dann halt nur Extra-Pech?

Mr Creosote:
Die 74er-Verfilmung kann ich sehr empfehlen! Das Spiel ist auch OK, habe es nicht als Belastung empfunden, es durchzuspielen. Aber mehr als OK eben auch nicht.
LostInSpace:
Habe den Film gesehen, der 2017 in die Kinos kam. Hat mir ziemlich gut gefallen. Nachdem was Mr Creosote hier schreibt, kann ich, ohne das Spiel gespielt zu haben, sicher sein, das bessere Medium erwischt zu haben. Es sei denn, das Buch ist noch besser :D
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