Arcanum: Von Dampfmaschinen und Magie

Andere Titel:
Arcanum: Of Steamworks & Magick Obscura
Firmen:
Troika Games / Sierra On-Line
Jahr:
2001
System:
PC (Windows)
Genre:
Rollenspiel
Tags:
Kämpfen / Multiplayer / Science Fiction / Schwerter & Magie / Einzigartig
Sprachen:
Englisch / Deutsch / Französisch / Spanisch
Mittlere Wertung:
5/5

Meinung damals

Visuell ist Arcanum verführerisch wie ein Flickenteppich von IKEA: Die Figuren ruckeln abgehackt über die Landschaft, als stünden sie unter Strom, und grobkörnige Hintergründe versauen den Anblick weiter. So was will ich mir eigentlich nicht antun. Doch nach gut einer Stunde auf Bewährung lässt das Spiel Muskeln zucken: Die Aufträge verästeln sich, beim Charakterformen kann ich meinen eigenen Stempel dick aufdrücken und die anfangs lahme Story zieht an. Unglücklicherweise funktioniert die Innere-Werte-Masche nur bis zum Kampfsystem: Dass ich in Echtzeit leichter gewinne als in Runden, ist schon unlogisch. Dass ich mir mit mittelstarken Feuerzaubern bereits unschlagbar vorkommen kann, wenn ich durch Golem-Herden marschiere, nervt. Wegen solcher Balancefehler ist Arcanum kein neues Fallout geworden.

Daniel Kreiss, PC Games 9/2001 

Bericht von Herr M. (24.01.2015) – PC (Windows)

Auf den ersten Blick betrachtet schaut Arcanum nach einem Rollenspiel voller toller Ideen aus. Seine Hauptattraktion ist eine während einer industriellen Revolution angesiedelte Fantasy-Welt, die gerade dabei ist in ein Science-Fiction Szenario überzugehen. Es handelt es sich dabei also um erfrischend einzigartige Gefilde, voller Wunder der Magie und Technik, die großes Potential bieten für dem Bruch mit uralten Klischees: Wie reagiert etwa ein unsterbliches Wesen, z.B. ein Elf, auf den technischen Fortschritt, welcher die Magie, die ihn bisher am Leben erhalten hat, in Vergessenheit geraten lässt? Gibt es billigere Arbeitssklaven als Orks, die man ja nach Lust und Laune ausbeuten kann, da sie ja offensichtlich böse sind und damit nichts anderes verdient haben? Und wie sieht es mit Sicherheitsfragen aus: Soll einem Zauberer, dessen magische Begabung einen unberechenbaren Einfluss auf Maschinen hat, untersagt werden sich in der Nähe von Dampfmaschinen aufzuhalten? Es gäbe Unmengen an Geschichten, die da erzählt werden könnten…

… um schließlich doch nur auf kurze Stimmungsbilder reduziert zu werden, ein paar kleine Texte, die den sonst eher schalen Handlungsbogen ein wenig würzen, jedoch nie das große Versprechen erfüllen. Das Aufpeppen gelingt mitunter recht gut, aber letzten Endes wird dann doch sehr viel von besagtem Potential einfach verschenkt. Man trifft zwar auf ein paar Leute, die einige provokante Gedanken zu äußern haben, und ein zwei gerät man auch in einen Konflikt, in dem Magie und Wissenschaft tatsächlich aufeinander prallen, die Welt an sich bleibt aber viel zu statisch, als dass es einen großen Unterschied machen würde. Dies ist im übrigen auch eines der seltsamsten Dinge an Arcanum: Die Welt wirkt furchtbar passiv. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass sie am Beginn eines neuen Zeitalters steht. Es gibt sehr viel Geschichte und Vergangenheit, aber kaum eine Zukunft. Manchmal beschleicht einem dabei das Gefühl, dass der eigene Charakter nichts anderes tut, als irgendwelche Rätsel der Vergangenheit zu lösen…

…die dafür einiges an Talent auf Seiten der Autoren zur Schau stellen. Der Hintergrund der Spielwelt wurde mit einer ungemeinen Detailfülle ausgestaltet. Scheinbar haben sich hier eine Reihe äußerst kreativer Geister ausgetobt. Fast jede Figur hat ein paar interessante Details mitzuteilen, es gibt eine Menge Bücher zu lesen, Vorlesungen zu hören und Ruinen zu besichtigen. Zum einem verleiht das dem Spiel eine gewisse Tiefe: Wer lange genug sucht findet zu so gut wie jedem Thema Informationen. Zum anderen kommt es dadurch zu einigen aufregenden Entdeckungen, die ein ganz anderes Licht auf bereits bewiesen geglaubte „Tatsachen“ werfen. Natürlich kommt das dem technisch/wissenschaftlichen Anteil des Spiels sehr zugute. Man spielt definitiv einen Entdecker…

…auf den Gott und die Welt einfach nur gewartet hat. Und das im wörtlichsten Sinn: Man trifft fast ausschließlich auf Menschen (und Monster) die träge in den Tag hineinleben, sich nur zwischen Bett und „Arbeitsplatz“ – immer zu den exakt gleichen Zeiten – hin und her bewegen, oder bestenfalls in (sehr kleinen) Kreisen patrouillieren. Scheinbar sind ihre Leben so bedeutungslos und langweilig, dass sie, sobald sie einem erspähen, entweder sofort auf einem zulaufen (um ein wenig Dampf abzulassen) oder einem ihre halbe Lebensgeschichte zu erzählen beginnen (die dann oft recht spannend klingt, bis zu dem Moment, wo sie beschlossen haben mal eine Pause einzulegen und darauf zu warten, dass der große Held vorbeigelaufen kommt). Das mag in Rollenspielen zwar gang und gäbe sein, bei Arcanum wird es allerdings bis zum Exzess getrieben: Man spricht fast ausschließlich über Aufträge und den Problemen, denen sie entspringen. Dadurch wirken die Figuren seltsam isoliert, ja regelrecht in ihren eigenen kleinen Welten gefangen. Beispielsweise kann man die Leute wirklich selten über ihre Nachbarn befragen, geschweige denn über die Orte in denen sie wohnen. Außer man braucht diese Information um eine Quest abzuschließen. Dann bekommt man einiges an Tratsch zu hören…

…der seltsam faszinierend anzuhören ist. Die Texte würden zwar keinem Nobelpreis-Komitee standhalten, sie haben aber ihren ganz eigenen Reiz, der hervorragend zu der Pseudo-Viktorianischen Welt passt. Man kann den Stand seines Gesprächspartners sogar rein an dem was man von ihm zu Hören/Lesen bekommt abschätzen: Hafenarbeiter aus der Unterschicht zeichnen sich durch schwereren Dialekt aus, während ein Gentleman der Oberschicht sein bestes gibt durch perfekt akzentuierte Sätze möglichst abgehoben zu wirken. Das schließt auch den eigenen Charakter mit ein, dem ein recht breites Spektrum an Antwortmöglichkeiten in den Mund gelegt werden kann, je nachdem wie eloquent und/oder charismatisch er ist. Extrem dumme Gesellen müssen sich mit furchtbar unverständlichem Gebrabbel zufrieden geben, während die Gewitzteren Ansprachen halten können, bei denen selbst das leidenschaftsloseste Publikum mitgerissen wird. Das geht sogar so weit, dass man das Spiel beenden kann, ohne irgendjemanden umgebracht zu haben und (Achtung kleiner Spoiler!) selbst den Endgegner durch einen unglaublich genialen Appell an seine Vernunft von der eigenen Sache überzeugt hat. Einen reinen Diplomaten zu spielen, was ja nach wie vor kaum bedacht wird in Computer-Rollenspielen, ist also durchaus machbar…

… und komischerweise gleichzeitig auch als einziges wirklich empfehlenswert. Das Kampfsystem ist ein heilloses Durcheinander, das einem nur wünschen lässt, jeden Kampf zu entgehen. Der rundenbasierte Modus braucht ewig lange, macht die Sache aber viel zu leicht. In Echtzeit sind die Kämpfe dafür sofort vorbei und geben einem so gut wie keine Möglichkeit sinnvoll einzugreifen. Letzten Endes laufen aber beide auf das gleiche hinaus: Gegner anklicken und auf deren Tod warten. Man hat keinerlei taktische Möglichkeiten, außer der Wahl der Waffe und/oder Zaubersprüche plus auf welchen Gegner man sie anwenden möchte. Es gibt zwar eine handvoll Sprüche und Gegenstände die, anstatt die Feinde einfach nur zu töten, durch Spezialeffekte den Ablauf zu den eigenen Gunsten beeinflussen sollten, aber früher oder später findet man eine der 100-Angriffe-pro-Runde oder Click-und-Tod Dinger, die nicht nur diese sondern generell jegliche strategischen oder taktischen Überlegungen unnötig machen. Nun ja, zumindest wurde versucht einem dennoch einiges an Abwechslung zu bieten…

… die von den ganz klassischen Nahkampfwaffen (z.B. Schwerter Äxte und Bögen) über Fernkampfwaffen (sogar Pistolen und Gewehre!) und einer Unzahl an Zaubern (z.B. Feuerbälle, Zeitanhalten, Paralysieren, Beschwören) bis hin zu allerlei technischen Krimskrams (z.B. Roboter, Bomben, Gifte) reicht. Es findet sich also für so gut wie jedes Charakterkonzept die passende Waffen: Der Herr Ritter bekommt seinen Zweihänder, der Revolverheld seine namensgebende Knarre, der elfische Waldläufer greift wohl eher zum magischen Bogen, während die Damen und Herren der Wissenschaft ihre Tesla-Spulen aufladen und wer sich eher auf seine geschickte Zunge verlassen will, wirft sich halt in seinen Sonntagsanzug und setzt den Zylinder auf. Es gibt Unmengen an Gegenständen, Zauberformeln und Baupläne zu entdecken. Passenderweise gibt es dazu auch eine breite (aber nicht allzu redundante) Palette an Fähigkeiten. Zudem kann man auch noch Geschlecht und Rasse auswählen. Die Anzahl an Möglichkeiten scheint unbegrenzt…

… und doch hat man das Gefühl, dass sie sich kaum voneinander unterscheiden. Passend zum großen Aushängeschild der Spielwelt gibt es eigentlich nur zwei Unterscheidungen: Wissenschaft oder Magie. Wer das eine lernt, der verschlechtert automatisch seine Chance das andere erfolgreich einzusetzen. Wer sich dabei für Technologie entscheidet sollte sich schon man darauf gefasst machen sein Inventar mit Zutaten und Bauteilen für seine Apparaturen und Gebräue vollzustopfen, bloß um dann von enttäuschend mittelprächtigen Wirkungen belohnt zu werden. Wer sich hingegen für die Magie entscheidet sollte immer ein Auge auf seine Ausdauer (=Mana) haben, da diese schneller als der Blitz aufgebraucht sein wird. Unterm Strich ist die Magie aber ein klein wenig nützlicher, weil man so Dinge wie weltweiten Teleport, alles aufschließen (was nicht durch den Handlungsbogen verschlossen wurde) oder Angriffe mit de facto unbeschränkter Reichweite und regenerierender Munition schwer schlagen kann. Dies ist aber von einer rein spieltechnischen Perspektive betrachtet…

… weil die technologischen Spielereien schon um einiges lässiger und kreativer sind. Es verleiht dem Spiel zudem einen individuellen, sehr ausgeprägten Stil. Obwohl man während seiner Reise viele verschiedene Orte besucht (von einer Stadt, die dem London aus dem späten 19. Jahrhundert gleicht, bis hin zu einem Lothlórien -Äquivalent), scheint der Großteil von ihnen den technischen Fortschritt mit offenen Armen zu empfangen. Und es sind auch jene Siedlungen und Städte, in denen die Dampfmaschinen auf Hochtouren laufen, sich Rädchen, Kolben und Ventile hinter Jugendstilfassaden (oder im Falle der Zwergenminen untertage) drehen, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Selbst die Darstellung in der vergleichsweise schlichten Grafik ändert nichts daran, dass sie großartig aussehen. Doch die Designer haben noch eine anderes Kunstwerk vollbracht: Sie haben die Ortschaften unterscheidbar gemacht. Städte bestehen aus sehr viel Kopfsteinpflaster, verzierten Zäunen und Maschinerie, während kleinere Dörfer sehr viel Holzzäune, Feldwege und Tiere zur Schau stellen. Bis zu einem gewissen Grad schafft man es da sogar die einzelnen Siedlungen zu unterscheiden, einfach indem man einen Blick auf ihre Straßen wirft, da jede von ihnen ganz eigene Details aufweist. Dennoch gibt es ein paar Dinge, die man überall finden kann…

… wie beispielsweise die Leblosigkeit und Sterilität. Das liegt zu einem Großteil an der Totenstille, die überall herrscht. Wie oben bereits erwähnt stehen die meisten Figuren einfach nur in ihren Häusern und warten auf den Auslöser für den Start eines Auftrags. Was das ganze aber noch seltsamer macht ist, dass sie, bis man mit ihnen zu reden beginnt, auch vollkommen stumm sind. Musterbeispiel dafür sind die Kneipen, die man sich so vorstellen kann: Man kommt rein, es stehen ein paar Gäste herum, die reglos gerade aus starren, bis man sie begrüßt, worauf sie meistens damit reagieren, dass sie ein seltsames Pub-Quiz spielen wollen (das schon sehr verdächtig nach Kopierschutz anmutet). Doch damit nicht genug: Es fehlen auch sämtliche Hintergrundgeräusche. Mit Ausnahme rarer vertonter Dialoge und weniger raren Kampfgegrunze ist das Spiel einfach still. Das heißt, wenn man die Musik abdreht…

… die man eigentlich nur als außergewöhnlich beschreiben kann. Wie üblich ist es schwer zu beschreiben, aber dieses Streichquartett kann einem wohlige Schauer über den Rücken laufen lassen, so dass man regelrecht in das Spiel hineingesogen wird. Insbesondere die Titelmelodie ist eine ungemein schöne Melodie, so voller Trauer und Verlangen, aber doch auch einem leichten Hauch von Hoffnung. Im Großen und Ganzen sind die Lieder eher melancholisch…

…was ein wenig unpassend zu einer (zumindest in vielen Regionen) aufblühenden Welt scheint. Es hat doch sicher auch was anderes als Trauermärsche zu Königin Victorias Zeiten gegeben?

Wenn man sich aber mal daran gewöhnt hat (was recht schnell gehen kann) bieten die eher unaufdringlichen Klänge eine deutlich bessere Geräuschkulisse als es jede Ar von Hymne wohl je bieten könnte…

… aber es ist eben noch eines dieser kleinen Details, das einfach nicht dazu passen will…

Und das ist Arcanums Stärke und Schwäche zugleich: Genauso wie die Welt die zwischen Magie und Technik hin und her gerissen ist, scheint sich auch das Spiel nicht ganz entscheiden zu können, was es denn nun sein will. Es versucht so vieles auf einmal zu tun, es so vielen Leuten recht zu machen, dass es gar nicht anders kann als bei irgendetwas zu versagen. Es ist ein Musterbeispiel an Quantität vor Qualität: Einerseits bietet es einem so viele Möglichkeiten, andererseits sind die Unterschiede verschwindend gering. Einerseits ist die Welt einfach riesig und hat eine unglaubliche umfangreiche Hintergrundgeschichte, andererseits kann man die Figuren, die darin vorkommen bestenfalls als farblos bezeichnen. Einerseits bemüht es sich so sehr einen gewaltigen Konflikt zwischen Tradition und Fortschritt, zwischen Mystizismus und Rationalität heraufzubeschwören, andererseits kommt dieser dann kaum zu tragen. Interessanterweise ist das Endprodukt dennoch recht spielbar, da auf jede furchtbare Komponente eine wirklich geniale kommt und der Gesamteindruck eher der ist, dass man die hehren Ziele nicht ganz erreicht hat, man aber vieles um einiges schlimmer machen hätte können. Im Endeffekt reißt das ungewöhnliche Szenario, so unausgelastet es auch sein mag, doch noch einiges heraus und macht das Spiel zu einer äußerst empfehlenswerten Erfahrung.

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