Mit Lure of the Temptress liegt ein rundum überzeugendes Debut-Abenteuer vor, das sowohl inhaltlich als auch technisch sehr gut zum Amiga paßt. Weiter so, dann muß selbst ein Guybruch Threepwood bald vor der „revolutionären“ Konkurrenz zittern!
Mit Lure of the Temptress erwerben Sie ein solides Grafikadventure mittleren Schwierigkeitsgrades, welches zwar seinen Anspruch eines ‚virtuellen Theaters‘ nicht ganz gerecht wird, aber durch saubere Realisierung und eine angenehme Steuerung sicherlich seinen Platz im Adventureregal finden wird.
Virgins Adventure-Premiere schlägt trotz einiger Kinderkrankheiten manche Sierra-Langweiler um Längen und ist jedem Adventure-Fan zu empfehlen. Einen Blick sollte jeder Ex-Infocomler und Monkey-Island-Spieler auf alle Fälle riskieren.
Bericht von Mr Creosote & Wandrell (11.08.2012) – Amiga (OCS)
[Mr Creosote] Lure of the Temptress ist das erste Spiel des britischen Entwicklerstudios Revolution Software. Sie wurden später sehr beliebt mit der Reihe Baphomets Fluch und diese Spiele werden sogar bis heute immer wieder neu aufgelegt und vermarktet. Ihre noch älteren Spiele, inklusive diesem, haben sie netterweise mittlerweile kostenlos freigegeben.
[Wandrell] Wahrscheinlich weil es ihr Debüt war, wollten sie wohl ein bisschen mit dem Adventuregenre experimentieren, und schufen deshalb eine Engine namens „Virtual Theatre“, die dann auch noch in Beneath A Steel Sky verwendet wurde. Doch ist dieses Spiel trotzdem noch dem folgenden in mehreren Belangen unähnlich, was mit dem Fantasyplot beginnt.
Plot
[Mr Creosote] Der, muss ich sagen, ist recht einfach gehalten: Eine böse Magierin namens Selena hat mit Hilfe ihrer Armee von Orks… sorry, „Skorls“, die Macht im Königreich übernommen. Man übernimmt die Rolle eines gewissen Diermots, der in einem Skorl-Gefängnis aufwacht und nun Selena vertreiben soll.
[Wandrell] Und das war’s dann auch schon fast. Es ist ganz nett, dass die Stadt von den Monstern der Magierin überwacht wird, aber ansonsten gibt es kein Gefühl eines drohenden Unheils. Die gesamte Atmosphäre ist sehr dünn und weiter, als das die Oberböse böse ist, weil sie den König vertrieben hat, geht es nicht.
[Mr Creosote] Was die Atmosphäre angeht, sollte man jedoch zumindest das Intro, das vollständig mit Schattenrissen arbeitet, positiv erwähnen. Wenn das eigentliche Spiel beginnt, scheint Selena allerdings tatsächlich ihre Macht bereits sehr schnell gefestigt zu haben: Die Stadt macht nicht den Eindruck, dass Recht & Ordnung gerade frisch umgestürzt worden sind.
[Wandrell] Doch immerhin hat sie noch nicht jeglichen Widerstand gebrochen, manche Leute bekämpfen sie noch. Was allerdings auch mehr als vage ist; es gibt zwar anscheinend eine Widerstandsbewegung, aber eigentlich wirken die Leute alle apathisch und nehmen ihre Lage einfach so hin.
[Mr Creosote] Der letzte Aufstandsversuch ist kläglich gescheitert, wie Diermot in Person eines gefolterten und sterbenden Agenten, der im gleichen Kerker an die Wand gekettet ist, erfährt. Und dann trifft er in dem Gefängnis auch noch Ratpouch, einen Spaßmacher, der hier für Scherze über die neue Regierungsgewalt einsitzt. Zusammen können sie fliehen.
[Wandrell] Und als sie sich dann in der besetzten Stadt wiederfinden, wissen sie nur, dass sie den Schmied vor einer Gefahr für die Widerstandsbewegung warnen sollen. Dieser Schmied, der übrigens seltsam vertrauensselig ist für Jemanden in seiner Situation, zieht die Protagonisten dann schnell in eine Rettungsmission hinein.
[Mr Creosote] …und schließlich braucht man dann sogar die Hilfe eines Drachen, um Selena zu besiegen. Was natürlich klappt. Nur ein Cliché wird (halbwegs) ausgelassen: Eine Prinzessin rettet man nicht.
[Wandrell] Also ein ziemlicher Durchschnittsplot. Manchmal versuchen sich die Entwickler auch an kleinen humoristischen Einlagen, aber letztlich ist das alles zum Vergessen.
Gameplay
Virtual Theatre
[Mr Creosote] Was sie allerdings immerhin versuchen, ist, die Stadt, in der sich eigentlich alles abspielt, lebendig werden zu lassen. Wie Wandrell bereits erwähnte, nennt sich dieses System „Virtual Theatre“ (virtuelles Theater), was man prinzipiell damit zusammenfassend beschreiben kann, dass die Charaktere eigenständige Ziele haben, die sie selbstständig verfolgen.
[Wandrell] Angeblich zeigen sie ein Interesse an der Welt. Sie bewegen sich durch die Stadt und besuchen Plätze, die ihnen gefallen. Oder zynisch ausgedrückt: Sie wandern auf Pfaden, die sie mögen, durch die Stadt.
[Mr Creosote] Spielerisch bedeutet dies, dass man Charaktere nicht immer am gleichen statischen Platz vorfindet. Manchmal ist der Schmied in seiner Werkstatt, aber manchmal macht er auch in einer der Kneipen eine Pause. Tatsächlich ist es ja ein sehr verbreitetes Problem der meisten Spielwelten, dass eigentlich alles außer dem spielergesteuerten Protagonisten völlig statisch ist. Dieses System versucht das zu ändern.
[Wandrell] Aber es scheitert, denn es gibt keine richtige Möglichkeit vorherzusehen, wo sich denn nun ein bestimmter Charakter gerade befinden könnte. Tageszeiten sind unbekannt oder zumindest nicht ersichtlich und so weiß man nicht, ob der Typ nun gerade arbeitet oder sich ausruht; und entsprechend ist es nicht ersichtlich, wo er sich befinden könnte. Es wirkt ausgewürfelt und sorgt nur dafür, dass man sehr viel ziellos herumlaufen muss.
[Mr Creosote] Na ja, so groß ist die Welt (d.h. die Stadt) ja nun wirklich nicht; man kann die Leute eigentlich immer recht schnell finden. Mir hat etwas anderes Bauchschmerzen bereitet: Den Laufwegen und Aktivitäten der Charaktere wird zu wenig Bedeutung gegeben. Man denke beispielsweise an Shadow of the Comet. Jenes Spiel erlaubt seinen Charakteren keinerlei Freiheiten, alles ist ganz genau geskriptet. Trotzdem wirkt die dortige Stadt viel lebendiger, denn die Leute laufen nicht einfach nur ziellos umher; man trifft eine junge Frau und ihre Mutter, wie sie auf einer Bank sitzen und wenn man mit ihnen redet, laden sie einen zum Kaffeetrinken ein. Eine Zigeunergruppe macht zu einem bestimmten Zeitpunkt auf dem Marktplatz Musik. Doch nochmal: All dies ist fest in das Spiel einprogrammiert, d.h. die gleichen Ereignisse und Treffen werden beim nächsten Durchspielen exakt wieder zu passieren. Trotzdem ist der Eindruck ein besserer.
[Wandrell] Das könnte alles durchaus funktionieren. Ultima VII hat einen Zeitplan für diejenigen Charaktere, für die das Sinn ergibt. Doch das „Virtual Theatre“ ist noch ein bisschen mehr. Angeblich kann man Charakteren dabei zusehen, wie sie bestimmte Dinge erledigen, doch soweit ich das beurteilen kann, beschränkt sich das darauf, seinem Handlanger zu sagen, was er tun soll.
Interface
[Mr Creosote] Was direkt zu einer anderen Spezialität des Spiels überleitet: den Interaktionen mit anderen Charakteren. Man ist nicht darauf beschränkt, die üblichen Multiple-Choice-Unterhaltungen zu führen, sondern das Spiel erlaubt es einem sogar, anderen Charakteren komplexe Anweisungen zu erteilen. Das kann sich darum drehen, wo sie hingehen und was sie dort tun sollen; und solche Befehle können auch in Serie abgegeben werden, d.h. man kann gleich zehn Befehle auf einmal geben.
[Wandrell] Das wirkt ein wenig wie ein Überbleibsel des IF-Genres und spielt letztlich kaum eine Rolle. Die Befehle beschränken sich letztlich immer auf den Stil „benutze dieses Werkzeug mit diesem Objekt“.
[Mr Creosote] Etwas problematisch daran ist, dass man als Spieler kaum jemals nutzbare Rückmeldung bekommt, ob etwas funktioniert hat oder überhaupt was passiert ist. Generell gebe ich dir schon Recht, die gesamte Bedienung (nicht nur was die Befehlserteilung an Dritte angeht) ist der aus Textadventures sehr ähnlich. Nur, dass sie eben lange nicht so effizient ist: In der Zeit, in der ich eine komplexe Aktion mit dieser etwas ungenauen Maus-Scrollbedienung eingegeben habe, hätte ich das gleiche bereits dreimal eingetippt!
[Wandrell] Und man sollte sich auch auf ein wenig Pixelsuchen einstellen. Und darauf, dass manche Elemente nur dann anwählbar sind, wenn man vorher etwas anderes angeguckt hat. Wie beispielsweise das Fass gleich am Anfang, das man erst untersuchen, dann den Cursor etwas umherbewegen muss, um den neuhinzugekommenen Hotspot zu finden.
[Mr Creosote] Auch das rekursive Betrachten von Gegenständen ist ja in Textadventures absolut üblich. Das gesamte Design schreit eigentlich „Textadventure“ – außer eben dem Schwierigkeitsgrad und der Art der Rätsel.
Rätsel
[Wandrell] Was in diesem Spiel steckt, würde ich nicht als Rätsel bezeichnen. Meistens tauscht man ja nur Objekte aus oder redet mit anderen Leuten. Die einzigen Schwierigkeiten ergeben sich aus der Zufälligkeit, die richtigen Leute auch zu finden.
[Mr Creosote] Die gleichen Beobachtungen könnte man allerdings auch positiv interpretieren: Auf abstrakte Rätsel aus Selbstzweck wird verzichtet. Man löst das Spiel durch Interaktionen mit anderen Charakteren, was viel realistischer ist, als alle andere Varianten.
[Wandrell] Trotzdem könnte es wirklich verwirrend und damit nervig sein, einige Rätsel einfach durch Reden zu lösen und dass andere Teile leider nicht so klar sind.
[Mr Creosote] Alles „könnte“ „irgendwie irritierend“ von Irgendjemandem aufgefasst werden. Das heißt noch lange nicht, dass das Design grundlegend problematisch ist.
[Wandrell] Vergleich das doch mal einfach mit Monkey Island 2: Dort kann man auch steckenbleiben, wenn man nicht am richtigen Ort sucht. MI2 gibt einem aber auch Gegenstände mit klarem Anwendungszweck, ohne diesen Zweck sofort offensichtlich zu machen. So hat man immer das Gefühl, nach dem Erfolgreichen Lösen eines Rätsels wirklich etwas geschafft zu haben.
Hier trägt einem dagegen ein Typ auf, einem Händler einen Metallbarren zu bringen, der einem dann dafür ein falsches Juwel aushändigt. Der einzige Zweck ist, für ein anderes Objekt eingetauscht zu werden. Das dann wiederum für noch ein anderes Objekt eingetauscht wird. Eine solche Kette macht einen nur zum Botenjungen, als zum eigenständigen Problemlöser.
[Mr Creosote] Klar, ich will ja nicht behaupten, dass das Spiel sich nicht zeitweise in blödsinnigen Botengängen verliert. Man kann natürlich in jedem Spiel Beispiele für schwache Rätsel finden. Aber immerhin ist dieses Spiel noch lange nicht so vereinfacht wie Baphomets Fluch, wo sich wirklich praktisch jedes Rätsel darauf beschränkt, mit der einen Person im aktuellen Raum zu sprechen. Selbst wenn die Umsetzung natürlich weit entfernt von jeglich vorstellbarer Perfektion ist, hat das Spiel schon alle notwendigen Puzzlestücke: Die Art der Rätsel und das Interface greifen sinnvoll ineinander.
Fazit
[Wandrell] Wäre da nicht das „Virtual Theatre“, wäre dies für mich einfach ein weiteres vergessenswertes Adventure. Doch selbst diesbezüglich bietet das Spiel leider viel weniger, als dieses System erlauben würde. Man kann sich ja mal die abstrakte Beschreibung in der Anleitung durchlesen und dann selbst kurz anspielen.
[Mr Creosote] Dass dies nicht das beste Spiel aller Zeiten ist, ist wohl klar. Die konkrete Umsetzung hätte man deutlich besser gestalten können. Insbesondere ist das Spiel sehr kurz, es gibt zwei blödsinnige Actionsequenzen und der Endkampf ist sehr enttäuschend. Trotzdem mag ich die Kombination der spielerisch sehr klassischen Basis mit einem sehr modernen Ansatz zur Problemlösung: Charakterinteraktionen ins Zentrum des Spielgeschehens zu stellen, ist in der Spielegeschichte leider nur sehr selten gut gelungen. Wären der Plot interessanter und die Charaktere abgerundeter, dann hätte das richtig gut werden können! Es ist wirklich schade, dass Revolution Software dieses Grundgerüst nie mehr wieder verwendeten. Beneath a Steel Sky ist zweifellos das bessere Spiel, aber gleichzeitig ist es viel weniger ambitioniert.
[Wandrell] Etwas spielerisch zwischen diesem Spiel und Beneath a Steel Sky hätte meiner Meinung nach ein hervorragendes Spiel werden können. Aber leider ist das graue Theorie.