Bericht von Herr M. (24.12.2019) – PC (Windows)
Zu den größten Hoffnungen vieler Eltern gehört gewiss, dass es ihren Sprösslinge dereinst besser (oder zumindest genauso gut) wie ihnen selbst geht und dass sie ihnen manche ihrer Werte, Anschauungen und Ideen vermitteln können. Schließlich hegen viele Leute den mehr oder weniger heimlichen Wunsch in ihren Nachfahren weiterzuleben – vorzugsweise in einer ewig besseren Zukunft. Da die Wirklichkeit aber eben anders aussieht, als man sich das in einer gewissen Naivität ausmalt, und es mitunter nicht so leicht ist diesen hehren Zielen nachzueifern, gibt es eine gewisse Nachfrage nach allen möglichen Hilfsmitteln die zum ersehnten Erfolg führen sollen: Von Ratgebern in Buch- und Filmform, über spezielles Spielzeug, therapeutische und medikamentöse Ansätzen reicht die Palette mittlerweile gar bis hin zu Eingriffen in das Erbgut. Ein hochbrisantes Thema, dem sich das Adventure-Spiel Paradigm auf gekonnt humoristische Art und Weise widmet.
Der Dreh- und Angelpunkt ist darin der Dupa-Genetics-Konzern, welcher – in einer zwischen Dystopie und Utopie schwankenden Zukunft – für scheinbar alle Lebenslagen eine Antwort weiß. Vor allem aber für das Eingangs erwähnte Problem: Warum sich beim Nachwuchs auf die Launen von Mutter Natur verlassen, wenn man ihr nur ein wenig unter die Arme greifen braucht um das perfekte Vorzeige-Kind zu erhalten? Ein paar Eingriffe hier und da und schon lernt das brave Kind was gescheites und verkommt nicht zum hoffnungslosen (Lebens-)Künstler. Dass sie dann obendrein auch noch ein wenig hübscher sind als die normalsterblichen Bälger ist dann noch das Tüpfelchen auf dem perfekt durchgeplanten i. So verspricht es zumindest das Werbevideo.
Dem Protagonisten der Geschichte, den namens gebenden Paradigm, tangiert dies anfangs aber nur wenig: Alles was er im Leben erreichen will ist ein paar fette Beats abzuliefern, wozu er sich in einer verfallenden Industrieruine ein behelfsmäßig zusammengeschustertes Tonstudio eingerichtet hat. Auch sein Äußeres widerspricht so ziemlich jeder herkömmlichen Definition von Ästhetik, wodurch er die perfekte Antithese zur ganzen Konzernpropaganda darstellt. Dementsprechend bewegt er sich auch nicht in den höheren Kreisen, die sich all die exklusiven Produkte leisten könnten, sondern eher in einem sozialen Umfeld, das eine ähnlich entspannte Weltsicht hat wie er.
Damit liefert das Spiel schon allein mit seiner Ausgangssituation durch die sehr krassen Gegensätze Potential für Satire vom Feinsten, was für herzhafte Lacher sorgt. Einerseits kann man gut verstehen, was der Konzern erreichen will, dass es eben schon recht praktisch wäre, wenn man über so gut wie alle Situationen eine gewisse Kontrolle hätte und dass das ein oder andere technische Wundermittel sehr praktisch sein kann. Andererseits holt einem Paradigm mit seiner betont lässigen, aber auch bodenständigen Art, recht rasch wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, und zeigt einem welch lächerliche Ausmaße ein solches Streben nach Perfektion erreichen kann. Oder eben auch, dass sehr viele Leute gar nicht wirklich wissen, was sie alles mit den ach so tollen technischen Spielereien wirklich anstellen sollen um sie schließlich für Nichtigkeiten zu missbrauchen.
Was dabei zu gefallen weiß ist, dass sich das parodistische nicht nur auf billige Lacher beschränkt, sondern in einer geschickten Karikatur unserer eigenen Gesellschaft gekonnt ein Spiegel vorgehalten wird: Auch wenn das ganze in einer retrofuturistischen Version eines imaginären osteuropäischen Staates spielt, so erkennt man gewisse eigene Züge wieder, die gehörig durch den Kakao gezogen werden. Neben dem eingangs erwähnten Erziehungsproblemen tauchen immer wieder Themen wie der zunehmende Wunsch nach Individualismus, die Anerkennung von Minderheiten oder Probleme mit dem Mithalten des Fortschritts der Technik auf. Dem Autor gelingt es dabei auch einigermaßen geschmackvoll damit umzugehen und beide Seiten der Medaille auf den Arm zu nehmen, wodurch den SpielerInnen Moralpredigten erspart bleiben – so sie nicht der Unterhaltung dienen.
Als kontextfreies Beispiel sei hier eine Eigenart des Spiels erwähnt, das auf einem Wortspiel mit der englischen Phrase „pick up“ basiert. Dies kann man sowohl als „aufheben“ als auch „anbaggern“ interpretieren. Versucht man also x-beliebige Gegenstände, Personen oder gar Landschaften aufzuheben, hört man recht rasch eine Menge Anmachsprüche. Was anfangs ein wenig befremdlich wirken mag, und Anlass zur Sorge punkto Sexismus aufkeimen lässt, zeugt dann überraschenderweise von gehöriger Kreativität. Gewiss sind da einige dumme Sprüche dabei, aber im Großen und Ganzen sind die durchaus komisch, originell und vor allem aber passend. Interessant ist zudem, dass Paradigm sich dann in all den Lagen, wo in anderen Spielen oft gerade die geschmacklosesten Sprüche auftauchen, als ausgesprochen menschlich erweist. Entweder fehlen ihm die Worte oder er lässt sich einfach nicht zu peinlichen Tiefen herab.
Gleichzeitig ist diese Eigenheit aber auch Teil einer der Schwächen des Spiels: Paradigm ist ein äußerst geschwätziger Geselle. Einen Großteil seiner Zeit verbringt man damit ihm beim Beschreiben und Erzählen zuzuhören. Vieles von dem was er sagt ist zwar recht unterhaltsam, aber über längere Strecken können die direkt an den Spieler gerichteten Monologe ermüdend werden. So ertappt man sich gelegentlich in einer Zwickmühle beim Betreten eines Raums, wo eine Menge neuer Hotspots auftauchen. Will man wirklich alle davon bis ins letzte Detail untersuchen oder vielleicht doch zusehen, dass man die Handlung ein wenig voran treibt?
Erschwerend ist dabei, dass der Weg durch die meisten der zahlreichen Schauplätze streng genommen nicht allzu viele Aktionen erfordert. Es gilt zwar eine ganze Reihe an Rätseln und Problemen zu lösen, aber selten handelt es sich dabei um mehr als ein paar Handgriffe, die oft recht offensichtlich sind. Dafür wurde aber auch größtenteils auf Füllmaterial verzichtet, d.h. die Hindernisse ergeben sich eher organisch als künstlich. Und man muss den Rätseln zugute halten, dass sie entweder sehr logisch sind oder genau mit der richtigen Menge an Hinweisen versehen sind. Frustrierende Sackgassen bleiben also aus, was recht erfrischend sein kann, wenn man mal ein Adventure ganz ohne Online-Lösung nachzusehen durchspielen will. Gesetzt dem Fall, dass man tatsächlich einmal stecken bleiben sollte (was dem Schreiber dieser Zeilen kein einziges mal passierte), gibt es ein paar gut justierbare Lösungshilfen (von Hotspotanzeige bis interaktiver Lösung).
Scheinbar als Ausgleich für den eher niedrigen Schwierigkeitsgrad des Hauptweges gibt es eine Reihe von versteckten Rätseln und Geheimnissen zu entdecken, die es teils dann ziemlich in sich haben und mit der ein oder anderen Überraschung aufwarten können. Diese sind zwar völlig optional und tragen oft nicht wirklich viel zur Handlung bei, dafür stellen sie aber auch für wahre Genre-Veteranen eine Herausforderung dar. Schon allein zu erkennen, dass es sie überhaupt gibt, bedarf schon einiges an Scharfsinn und macht sicher einen zweiten oder gar dritten Durchlauf überlegenswert. Beispielhaft sei hier ein offen angebrachter Schalter ohne Beschreibung genannt, dessen Zweck sich erst nach ein wenig herumexperimentieren offenbart und dessen unsinnige Funktion zwar nicht nötig gewesen wäre, aber doch von Liebe fürs Detail zeugt.
Diese Detailverliebheit spiegelt sich im Übrigen auch sehr angenehm in der Grafik wieder, die nicht nur extrem hochauflösend daher kommt, sondern auch von einem gewissen Zeichentalent zeugt. Der gewählte Stil zwischen Photorealismus und Comic ist ziemlich ansprechend. Wobei vor allem die Nahaufnahmen der Figuren sehr gelungen sind. Gelegentlich wird auch mit anderen Stilen experimentiert und ganz zum Schluss wird es auf Wunsch einmal gar herrlich surreal, ja fast avangardistisch. Für Abwechslung ist also gesorgt. Die gibt es auch bei der Musik, die mal schön melancholisch, mal fett entspannt, mal aufgekratzt retromäßig unterwegs ist und die Stimmung gekonnt unterstreicht.
Und wo hier schon das mittlerweile ein wenig überstrapazierte Wörtchen „retro“ fällt: Passenderweise macht sich ein Einfluss der „Eltern“ dieses Spiels mal mehr, mal weniger deutlich bemerkbar. Nicht nur bei Steuerung, Grafik und Sound, sondern auch durch das ein oder andere eher subtile Detail. Beispielsweise erinnert Paradigm von der Stimmung her sehr stark an die Space-Quest-Reihe, die ebenso gerne Dys- und Utopien durch den Kakao gezogen hat. Die schrulligen Charaktere (und vor allem die Großaufnahmen derselben) wiederum könnten direkt aus einem Spiel wie Day of the Tentacle oder Loom stammen.
Zum Glück wurde aber nicht nur kopiert oder imitiert, wie das bei ähnlichen Kindern der Nostalgie allzu gerne getan wird. Nein, es gibt genug Neues zu entdecken und genug eigene Ideen um auch jene Leute zu unterhalten, die mit reiner Zitatenschleuderei nicht viel anfangen können. Kurzum: Paradigm ist ein Kind, dass viel von seinen Eltern gelernt hat, aber auch auf eigenen Beinen stehen kann, und aufzeigt, dass das Adventure-Genre eine Zukunft hat, die sich nicht nur auf endlosen Wiederkäuen beschränkt. In dieser Hinsicht heißt es gespannt zu sein, wann und ob Jacob Janerka an diesen Erfolg anknüpfen kann.