Bericht von Mr Creosote (26.03.2022) – C64

Sherlock Holmes ist eine der literarischen Figuren, die weit über ihre eigenen ursprünglichen Geschichten gewachsen sind. Im Zeitalter der Rationalismus liebte die gebildete Leserschaft seine logische Deduktionstechnik. So weit, dass sein Schöpfer Arthur Conan Doyle sich gezwungen sah, seinen mittlerweile verhassten und bereits begrabenen Charakter wiederzubeleben. Die Faszination mit der Vorstellung, alles sei erklärbar, wenn man nur genau beobachtet und logisch denkt, bleibt auch heute ein vielgehegter Wunsch. Selbst wenn das Bild des legendären Detektivs mittlerweile von Sekundärquellen geprägt wird.
Trotz Guy Ritchie und Robert Downey Jr. ist der eine Mensch, der diesem Bild bis heute seinen stärksten Stempel aufgedrückt hat, William Gillette . Der Name mag den wenigsten geläufig sein, doch es war dieser Bühnendarsteller, der das Cliché des Holmes im schweren Mantel und mit Deerstalker-Mütze , permanent an einer gebogenen Pfeife ziehend, etablierte, was in den originalen Geschichten kein großes Thema war. Gillette, wie auch Arthur Conan Doyle und seine Frau sowie diverse weitere berühmte historische Figuren (von Houdini und Picasso zu Lawrence von Arabien und Thomas Edison) geben in diesem Spiel die Nebenrollen zu Holmes und Watson. Mehr Meta geht es nicht.
Diese Zusammenkunft ergibt sich nicht ganz zufällig auf einem Schiff auf dem Weg quer über den Atlantik. Nach Ende des ersten Weltkriegs planen Gillette und Doyle (im Spiel als „Agent“ Watsons bezeichnet) eine neue Holmes-Theatertournee durch die USA vor. Der sich bereits im Ruhestand befindliche Detektiv zeigt sich nur milde interessiert, stimmt aber einer Reise zu Werbezwecken zu – geködert von dem ebenfalls eingetroffenen Brief eines jungen Mannes, der behauptet sein Sohn zu sein. Der scheinbare Selbstmord eines Passagiers am ersten Abend der Reise ist nur der Anfang dessen, was in den nächsten fünf Tagen geschehen wird. Der alternde Holmes wird dabei nicht nur an den Rand seiner körperlichen Belastbarkeit gebracht, sondern es geraten noch mehrere andere Passagiere in akute Lebensgefahr…

Another Bow ist eines der ersten offiziell lizensierten Holmes-Computerspiele. Es entstand unter dem kurzlebigen Softwarelabel des Buchverlags Bantam, und dort nahm man diese Aufgabe wohl sehr ernst. Zwar hatte das Adventuregenre bereits bewiesen, dass Erzählungen jenseits „erschlage den Drachen, befreie die Prinzessin und finde diese zehn Schätze“ mögliche waren, jedoch war die Kernspielmechanik trotzdem immer die der mechanischen Interaktion mit der physischen Welt geblieben. Selbst im Krimigenre, weitgehend von Deadline definiert, drehten sich Aktionen der Spieler primär darum, verschlossene Wege zu öffnen, Objekte aufzusammeln und sie anderswo mehr oder weniger logisch einzusetzen. In diesem Sinne hätte man im besten Fall ein Spiel erwarten können, in dem Sherlock Holmes Schlösser knackt, codierte Nachrichten entschlüsselt und Fallen entschärft.
Stattdessen gingen die Designer einen völlig anderen Weg, beschritten mutige Wege abseits der bereits etablierten Formel. Auf die Gestaltung einer physischen Welt voller mechanischer Interaktionen verzichteten sie weitgehend, sondern entwickelten alles ausgehend von Plot und Charakteren. Die räumliche Bewegung auf dem Schiff? Sekundär, man tippt einfach ein, wohin man möchte, Holmes und Watson finden schon einen Weg. Formt man aus Ton einen Schlüssel, härtet ihn über offenem Feuer und schließt damit eine Tür auf? Nein, das muss man nicht tun. Im Laufe des gesamten Spiels gibt es ungefähr fünf Objekte und selbst die werden jeweils nur zur sofortigen Untersuchung oder Verwendung aufgesammelt. Die Aktionen ergeben sich aus der erzählerischen Notwendigkeit (wenn diese auch ehrlich gesagt manchmal mehr nach einer pseudohistorischen Version des Denver-Clans erscheint als eine Holmes’sche Kriminalgeschichte), während in dem Genre normalerweise Spieleraktionen (im besten Fall) kleine erzählerische Schnippsel oder (das übliche faule, viel zu verbreitete Design) längliche Zwischensequenzen auslösen.
Daraus ergibt sich allerdings auch der größte Kritikpunkt des Spiels. Wo etwas Relevantes geschehen wird, ist schwer vorauszusehen. In einem Genre, in dem es hauptsächlich darum geht, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, schwierig. Die Designer nahmen sich diesem Problem mehr oder weniger elegant an. Besser läuft es, wenn dem Spieler visuelle oder auditive Hinweise (in Textform) gegeben werden, denen er folgen kann. Weniger subtil ist es, wenn Holmes oder Watson anlasslos Dinge der Marke „Ach ja, wollten Sie nicht heute Morgen bei X vorbeischauen?“ von sich geben.

Solch deutliche Hinweise könnten das Spiel allzu simpel machen und genau dies kann man Another Bow auch vorwerfen. Einigermaßen gelindert wird es, indem insgesamt sechs kleine Plots in die Spielwelt gewoben werden. Statt eines Kriminalfalls gibt es gleich mehrere. Wodurch jeder für sich natürlich weniger komplex ist, aber man muss erstmal identifizieren, was wozu gehört. Beim Durchspielen ist ein Teilerfolg sehr wahrscheinlich: Vielleicht verhindert man das eine oder andere Verbrechen, schnappt einen oder zwei Bösewichte, aber das ist natürlich längst noch nicht alles.
Genau genommen wird der Spieler somit in eine ziemlich passive Rolle gedrängt. Die Plotzweige schreiten wie vordefiniert voran. Zwar teilweise parallel und überlappend, aber doch in ihrer vorgegebenen, linearen Ordnung. Dem Spieler bleibt wenig Aktionsraum, abgesehen vom Beobachten, um schließlich im letzten Moment ein Verbrechen doch noch zu verhindern.
Immerhin ermutigt diese Struktur zum freien Entdeckung und Experimentieren, selbst in Bereichen der Geschichte, die man eigentlich bereits abgeschlossen wähnt. Das Spiel bietet diesbezüglich eine breite Möglichkeit an Eingaben, die sinnvoll beantwortet werden, selbst wenn sie nicht direkt zur konkreten Lösung beitragen. Die Erzählung im Präteritum hilft diesbezüglich ebenfalls. Watson wählt durchaus mal eine Zusammenfassung der Sorte „Holmes sprach mit Mr X, aber eröffnete mir später, es sei Zeitverschwendung gewesen.“ Richtig erkannt, es muss nicht alles auserzählt werden.
All dies muss 1985 schwieriger zu akzeptieren gewesen sein als heute. Insbesondere wird Spielern schnell aufgehen, dass nur sehr wenige Befehle überhaupt notwendig sind zum Erreichen des „perfekten“ Endes. Geht man Another Bow als Spiel an, das es zu lösen gilt, bietet es zugegeben nicht besonders viel. Sieht man es andererseits als interaktive Weise, die Geschichte zu erleben, möglichst viel aus ihr herauszuholen, ist es nicht nur ein bemerkenswertes Experiment, sondern bietet auch eine schöne Zeit für Kenner. Selbst wenn nicht alle Pfade, die es einschlägt, komplett ausgestaltet sind.