Balance of Power: Geopolitics in the Nuclear Age war das Spiel, nach dem sich Atari sich bestimmt in den Bauch biss, Chris Crawford entlassen zu haben. Es war sein erstes Projekt in der Selbstständigkeit und wurde ein Riesenhit. Bei der kleinen, elitären Zielgruppe de Computerbesitzer Mitte der 80er kam es zu letzten Hochzeiten des Kalten Krieges bestens an. Die 1990 Edition wollte Crawford eigentlich nicht mehr machen. Publisher Mindscape verlangte danach und schließlich lies er sich breitschlagen.
Der Titel Balance of Power bezieht sich selbstverständlich auf die geopolitische Situation erwähnten Kalten Krieges. Zwei Supermächte, die USA und die UdSSR, standen sich scheinbar unversöhnlich im ewigen Patt gegenüber. Jeweils ungefähr die Hälfte der Welt hatten sie unter ihrer mehr oder weniger direkten Fuchtel. Permanent ging es darum, Einfluss zu sichern und vorsichtig auszubauen. Wobei ebensolche Vorsicht geboten war, da beide Seiten über mehr als genug Atomwaffen verfügten, und beide geschworen hatten, sie auch einzusetzen – selbst, wenn die gegenseitige Vernichtung der zweifellose Ausgang war.
Diese Verantwortung legt das Spiel in die Hände des Spielers. Auf einer einfach gehaltenen, aber praktischen Weltkarte kann auf verschiedene Weisen potentiell tödlicher Einfluss ausgeübt werden. Scheinbar sind einige der Optionen friedlicher Natur, wie Handelsabkommen, aber auch das direkte Entsenden militärischer Verbände steht zur Auswahl. In letzterem Fall muss man sich nur entscheiden, ob sie auf Seite der dortigen Regierung oder der Aufständischen eingreifen sollen.
Hauptwährung im Spiel ist Prestige, das den weltweiten Einfluss misst. Sich mit anderen Regierungen anzufreunden steigert diesen Einfluss. Kommt es irgendwo zu einem Umsturz, werden die neuen Machthaber sich wahrscheinlich auf Seite des Blocks schlagen, der sie vorher finanziert und unterstützt hat. Erfolgreiche Operationen erhöhen insofern das Prestige, aber jeder Versuch kann von der anderen Seite in Frage gestellt werden. Eskaliert ein solcher Protest, steht wiederum Prestige auf dem Spiel, denn irgendwann bedeutet auf der Weltbühne das Nachgeben einen Gesichtsverlust. Warum sollte man nachgeben? Ansonsten fliegen die Raketen und alle verlieren.
Entsprechend viel Spielzeit fließt in die Erwägungen, wie mit solchen Konflikten umzugehen ist. Der Geheimdienst legt einem Informationen über alle möglichen Aktionen der anderen Supermacht vor, sowie auch die anderer Nationen der Welt. Letztere sind in der 1990 Edition neu hinzugekommen, die anderen Staaten werden also ebenfalls als Akteure simuliert, anstatt nur als passives, zu beherrschendes Kanonenfutter. Die ebenfalls neu eingeführte Beratergruppe und ihre Sofortratschläge helfen einem, das Risiko einzuschätzen, doch die Entscheidung (und damit Verantwortung) liegt letztlich allein beim Spieler.
Bei Spielende wird die Prestigeentwicklung als Diagramm dargestellt und verglichen. Den Spieler mit höherer Prestige könnte man als Gewinner ansehen – doch vom Spiel wird kein solcher explizit ernannt, denn bei Balance of Power handelt es sich um Crawfords erstes hochdidaktisches Spiel. Spielspaß mag nicht einmal erstes Designziel gewesen sein. Man muss davon ausgehen, dass Chris Crawford das bereits vorher bei SSI erschienene Geopolitique 1990 gekannt haben muss, das ein auffällig ähnliches Konzept bereits in eine weit rundere Spielerfahrung geformt hatte.
Stattdessen destillierte er den Kalten Krieg auf seinen diplomatischen Kern: Machtspiele. Das Design demonstriert ein explizites Desinteresse an klassisch „spielerischen“ Faktoren, wie beispielsweise den Aufbau einer wirtschaftlichen Machtbasis. Was rückblickend einigermaßen ironisch ist, insbesondere in dieser Neuauflage, da genau dies sich ja letztlich historisch als Ursache des Zusammenbruchs des Ostblocks herausstellt. Doch ein Spiel, das eben jenes simuliert, gibt es auch. Es nennt sich Crisis in the Kremlin und ist sehr gut gelungen in dem, was es versucht. Balance of Power handelt dagegen von der Psychologie der Interaktionen zwischen den verfeindeten Mächten.
Die unkonventionell geschriebene Anleitung fasst das Dilemma des Spielers, das im Zentrum der Simulation steht, folgendermaßen zusammen:
Crawford macht seine Agenda für die Entwicklung des Spiels in diesen Abschnitten deutlich. Für ihn gibt es in diesem Konflikt kein Gewinnen, sondern nur Überleben. Ein Spieler, der die andere Seite einfach gewähren lässt, und selbst keinerlei Anstalten macht, selbst Prestige zu gewinnen, würde wahrscheinlich seinen Respekt gewinnen. Schließlich wäre damit das Überleben der Menschheit gewährleistet. Zu dem Preis, die Welt in die Finger eines bösen Imperiums fallen zu lassen. Also der USA oder der UdSSR, egal.
Womit ein weiterer interessanter Punkt der Weltsimulation erwähnt wäre. Crawford macht keinen Unterschied zwischen den Seiten, es geht wirklich nur um Macht. Die gesellschaftlichen Ideologien, die die Staaten vertraten, spielen keinerlei Rolle, waren sie in der jeweiligen Propaganda auch noch so präsent. Doch man muss schon zweifeln, ob diese hinter verschlossenen Türen der Entscheidungsträger wirklich relevant waren. Im Spiel, wie auch in der Realität, kann man mit Regimen paktieren, die sich auf dem politischen Kompass noch so weit weg platzieren – solange es nur Macht bringt.
Wie klar sich das Spiel insofern politisch positioniert, kann man gutheißen, oder als moralisierend abkanzeln. Diese Bewertung ist rein subjektive Interpretation. Ganz sicher ist dabei jedoch, dass trotz einiger Einschränkungen, trotz des eher niedrigen Schwierigkeitsgrads (insbesondere auch dank der neuen Ratgeber), das Spiel seine Lektion klarmacht und dabei gleichzeitig unterhält. Letzteres liegt wiederum an den komplexen, relevanten Entscheidungen, die dem Spieler auf Basis einfach gehaltener Spielmechanik abverlangt werden. Was immer eine vorteilhafte Kombination ist.
Doch mit einer Designentscheidung, wahrscheinlich in dem verbissenen Wesen Crawfords begründet, steht sich das Spiel selbst im Weg. Eine Partie endet immer mit dem Erreichen des Jahres 1997, also sieben Spieljahren/-runden. Langfristige Entwicklung, langfristige Effekte der Weltpolitik können also niemals beobachtet werden. Die wahre Komplexität eines solchen Szenarios läge ja eigentlich in den indirekten Auswirkungen, die die Interaktionen einer Gruppierung auf Dritte oder Vierte hätte. Doch davon ist, selbst wenn es im Code (der vom Autoren offengelegt wurde) angelegt sein sollte, nicht zu bemerken. Zwangsläufig hätte sich damit natürlich das Spielgeschehen noch weiter von der Entwicklung der echten Welt entkoppelt.
Doch aus heutiger Sicht leben wir ohnehin in einer ganz anderen Welt. Faszinierend bleibt dabei, dass Balance of Power: The 1990 Edition trotzdem funktioniert. Eventuell liegt dies gerade in seiner bewussten Reduktion aufs Wesentliche. Der Kernkonflikt der Menschheit ist zeitlos. Ob es nun die UdSSR ist, die ein Marionettenregime im Afghanistan der 80er Jahre stützt, heutige russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen in der Ukraine, Chinas Kriegsschiffe im Westpazifik oder die Dollar-Politik der USA. Letztendlich verlieren wir alle. Egal, auf welcher Seite wir uns nominell befinden.
Kommentare (1) [Kommentar schreiben]