Immer wenn Sid Meier wirklich freie Wahl hatte, was er als nächstes angehen wollte, kam er auf Johann Sebastian Bach zurück. In den frühen/mittleren 90er Jahren, nach den Riesenhits Railroad Tycoon und Civilization, brachte ihn seine Bewunderung für den Komponisten so weit, eine ultra-obskure Musikanwendung für das ultra-obskure 3DO zu entwickeln (CPU Bach). Bereits ein paar Jahre zuvor, Mitte der 80er, hatte er sich bereits einen Namen im Genre der Militärsimulationen und Kriegsspielen gemacht. Microproses Erfolg hing stark von Meier ab. Er spielte seinen ersten Joker und – in mutiger Abkehr von etablierten Kerngenres – machte Pirates!.
Selbst nach Microprose-Standards dauerte die Umsetzung auf den Amiga außerordentlich lange. Nach drei Jahren auf dem trockenen landete dieses bereits legendär gewordene Spiel an den Küsten des damals leistungsfähigsten Heimcomputers und die Melodien Bachs, die das Spiel begleiteten, klangen niemals besser. Noch zufriedenstellender war jedoch die vollkommene grafische Überarbeitung, insbesondere da der Feind (der Atari ST) im Jahr zuvor eine diesbezüglich ziemlich faule C64-Umsetzung erhalten hatten.
Musik und Grafik kurz ausgeblendet stellte Pirates! eine entscheidende Abkehr von den Bahnen, die man zu der Zeit von Microprose und Meier gewohnt war. Jenseits klassischer Genregrenzen geht es in Richtung dessen, was Cinemaware zu der Zeit produzierte (Meiers Besuch bei einer Cinemaware-Präsentation auf einer Messe direkt zuvor ist verbrieft): Anstatt das Design von einer Kernspielmechanik ausgehend zu beginnen, ist das Spiel um ein Thema herum gestrickt. In diesem Fall offensichtlich der romantische Blick auf Piraterie im Hollywood-Stil.
Doch wo Cinemaware ihre Minispielchen meist aus einer streng vorbestimmten Geschichte heraus starteten, leistete Pirates! Pionierarbeit in Richtung offener Welt und „Emerging Storytelling“. Ist es also sozusagen Elite in der Karibik? Nicht völlig falsch, da Seeschlachten, das Stürmen von Festungen usw. das Spielgefühl bestimmen, so wie es die Begegnungen und Entdeckungen in dem älteren Spiel taten. Doch wo es sich dort wirklich alles im Kopf des Spielers abspielte, versteckte Meier sehr wohl einige explizite Puzzlestücke einer Handlung hier und dort. Angebote, auf die man eingehen kann, oder auch nicht. Die Entscheidung liegt allein beim Spieler.
Pirates! besetzt so eine Mittelposition, möglicherweise ein Optimum zwischen einer geführten und freien Spielererfahrung, die sowohl klassische Spannung, als auch hohe Wiederspielbarkeit erlaubt. Ob man seine erste kleine Schaluppe direkt auf Kaperfahrt führt, sogar Städte plündert oder erstmal die Flotte durch friedlichen Handel etwas erweitert, entscheidet niemand als der Kapitän selbst.
Welche Art von Pirat will man dann nach der Anfangsphase sein? Mutig die stärksten Festungen der Karibik stürmen? Durch sein Informantennetzwerk die Bewegungen der spanischen Goldtransporte ausspionieren und dann gezielt zuschlagen? Vergrabene Schätze im Dschungel suchen? Die in alle Winde verstreuten Familienmitglieder suchen und wiedervereinen (und dabei natürlich auch reich werden)? Wenn all das irgendwann zur Routine wird, wie wäre es dann, mal als Spanier zu spielen in einem Zeitalter, als praktisch die gesamte Karibik spanisch war? Viel Gelegenheit zum Plündern bleibt da nicht.
Die Minispielchen fallen in die Kategorie eher simpel und einfach. Gute Fertigkeiten beim Fechten zahlen sich aus, da sie Kantersiege über weit überlegene Armeen ermöglichen. Schonmal eine bewaffnete Gruppe von 300 gegenüber einem einzigen Mann kapitulieren sehen? Schiffsduelle funktionieren wie erwartet, primär hängen sie von der Anzahl der Kanonen sowie Windrichtung und -stärke ab. Festungen von der Seeseite zu erstürmen gestaltet sich relativ gesehen schwierig, doch zum Glück kann man auch in der Nähe anlanden und seine Männer auf dem Landweg dorthin führen. In letzterem Fall versagt die künstliche Intelligenz, die die Verteidiger steuert leider und zum Glück. Zuguterletzt ist noch die Positionsbestimmung per Sonnenstand enthalten, die sich allerdings als eher unnütz erwies und in folgenden Versionen ganz herausfiel.
Meiers Absicht war es also nicht, die Spielchen fordernd zu machen, sondern den Spielern ein Abenteuer in dieser Welt zu ermöglichen. Selbst wenn man einmal scheitert, schmort man zwar ein paar Monate im Kerker oder harrt auf einer verlassenen Insel auf Rettung, aber das Spiel geht danach weiter. Solcherlei Ereignisse werden einfach Teil der spielereigenen Erzählung. Zumindest wenn Optimierer nicht einen früheren Spielstand laden. Doch anders als Wing Commander, das ebenfalls temporäres Scheitern in die Geschichte der Spieler einzuflechten versuchte und damit krachend scheiterte, klappt es in Pirates! Der Unterschied liegt schlicht und einfach in der Spielstruktur begründet: Während dort die diskret aufeinanderfolgenden Missionen ein gezieltest Speichern und Laden einfachst ermöglichen, fließt Pirates! einfach permanent weiter. Einen Spielstand zu laden bedeutet praktisch immer auch, einige tolle Erfahrungen aus der Zwischenzeit zu tilgen. Das überlegt man sich also zweimal.
Noch einen Drauf setzt für die Langzeitmotivation die zugrundeliegende Simulation der sich selbstständig verändernden Welt. Klar, auch diese Änderungsdimensionen sind eher simpel, aber es geschieht trotzdem immer etwas. Egal, ob der Spieler involviert ist, oder nicht. Kriege werden erklärt, Städte erobert, andere Piraten befinden sich ebenfalls auf Kaperfahrt… Das Verhältnis der Nationen zueinander und der Städte gegenüber dem Spieler springt umher, Reichtum geht hoch und runter usw. Wenn man diesbezüglich eines kritisieren sollte, ist es eventuell der sogar zu starke Einfluss der Taten des Spielers. Erfahrenen Spielern kann es beispielsweise durchaus gelingen, die gesamte spanische Goldküste den Niederländern in die Hände zu legen. Doch als fairen Vergleichsmaßstab der Zeit muss man sich immerhin ins Gedächtnis rufen, dass die meisten Handelsspiele mit statischen Preislisten arbeiteten und das sogar noch auf Jahre hinaus nach Pirates! so blieb. Insoweit war Pirates! schon ganz vorn dabei.
Trotz Allem muss man sich natürlich die Frage stellen, ob man das Original oder auch diese Version überhaupt noch spielen sollte, insbesondere angesichts immerhin zwei offiziellen weiteren Neuauflagen (Pirates! Gold von 1993 und Sid Meier's Pirates!: Live the Life von 2004). Abgesehen von Grafik und Sound ist auch die Steuerung hier bereits gegenüber dem Joystick des C64 auf Maus umgestellt, also sozusagen ein Zwischenschritt hin zu Gold. Abgesehen von kleinen Anpassungen beim Schwertkampf und der Landkarte ist jene Version jedoch im Kern immer noch das identische Spiel. Das noch spätere Remake injizierte eine explizitere Geschichte ins Spielgeschehen (zum Besseren oder Schlechteren) und bot neue Minispielchen (das Tanzen). Ehrlich gesagt ist der Vergleich sehr subjektiv. Sehr wahrscheinlich ist allerdings, dass jeder Spieler irgendwann seine Lieblingsversion identifizieren und dieser dann treu bleiben wird. Hin- und herzuwechseln ergibt nur wenig Sinn. Meine persönliche Empfehlung bekommt entweder diese Amigaversion des Originals oder Gold auf dem PC. Sie sehen am besten aus (die neueste fällt ironischerweise in die Zeit der sehr schlecht gealterten dreidimensionalen Renderlooks), steuern sich komfortabel und bieten das richtige Maß an Freiheit. Doch unabhängig von der persönlichen Wahl: Unbeschreibliche Reichtümer (und wahre Liebe) warten nur auf Entdeckung!
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